Wissenschaft, Risiko & Politik

Der „wissenschaftliche Nachweis“ – zu eng gedacht

Wenn Juristen, Politiker oder Bundesbehörden (und in deren Folge die Medien) behaupten, gesundheitliche Effekte durch Mobilfunkstrahlung oder durch andere Umweltnoxen seien nicht wissenschaftlich „nachgewiesen“, dann heißt das nicht, dass es keine wissenschaftlich verlässlichen Studien gibt, die reale gesundheitliche Effekte aufzeigen.

Was mit dem fehlenden „wissenschaftlichen Nachweis“ gemeint ist: Es fehlt ein vollständig aufgeschlüsselter und verstandener Wirkungsmechanismus, der den Ursache-Wirkung-Zusammenhang exakt und lückenlos beschreibt – eine toxikologisch unerfüllbare Forderung, gerade bei vielen Langzeit- oder Mehrfachwirkungen.

Denn: Die Wirklichkeit biologischer Systeme ist komplex. Die Pathogenese vieler Umweltkrankheiten (wie Krebs oder neurodegenerative Erkrankungen) basiert auf multifaktoriellen, oft synergetischen Einflüssen – Einzelwirkungen lassen sich kaum isolieren und als ausschließliche Bewertungsgrundlage verwenden.

Toxikologische Realität:
Risiko ≠ Nachweisbarkeit

Ein Beharren auf dem „wissenschaftlichen Nachweis“ als einzige Begründung für das Ausbleiben entsprechender Schutz- oder Vorsorgemaßnahmen grenzt also die Erfordernisse eines transparenten Umgangs mit diesen Fragen in unserer Gesellschaft aus (siehe ausführlicher hierzu: „Wissenschaft verkehrt“, Umweltmedizin und Gesetzgebung im Widerspruch, Kühling 2020 [1]). Dies ist zu beklagen am Beispiel der belegten Kinderleukämie im Bereich von Hochspannungsleitungen (niederfrequente Felder), bei den bekannten athermischen Effekten der Mobilfunkstrahlung (hochfrequente Felder) oder auch bei der belegten Kinderleukämie in der Nähe von Atomkraftwerken (ionisierende Strahlung).

In der Umwelttoxikologie genügt nämlich zur Regulierung meist keine absolute Kausalitätskette, sondern es gelten wissenschaftlich gestützte Wahrscheinlichkeitsaussagen, wie zum Beispiel:

• Hinweise oder Signale aus Epidemiologie, In-vitro-Studien oder Tiermodellen,

• Statistische Assoziationen bei Mehrfachbelastung,

• Beobachtete molekulare Effekte wie oxidativer Stress, DNA-Schäden etc.

Prominente Beispiele sind:

• Benzol: jahrzehntelang bekannt für hämatotoxische Wirkungen, wurde reguliert, bevor der genaue Mechanismus der Leukämieentstehung verstanden war,

• Dieselruß (Kanzerogenität bekannt, aber komplexe Wirkpfade),

• Asbest (schleichende Exposition, keine unmittelbare Wirkung – trotzdem wurde Vorsorge eingeführt),

• Endokrine Disruptoren (z. B. Bisphenol A) – Wirkung über indirekte Signalwege.

Elektromagnetische Felder – eine systematische Unterschätzung

Die 26. BImSchV (Verordnung zur Begrenzung elektromagnetischer Felder) setzt ausschließlich auf den thermischen Effekt der Strahlung. Sie ignoriert wissenschaftlich belegte athermische Effekte wie:

• oxidativen Zellstress

• Genexpression,

• Fruchtschädigungen,

• Verhaltensveränderungen bei Kindern (z. B. Hyperaktivität, Konzentrationsdefizite).

Dabei liegt längst nicht nur ein ausreichendes, wissenschaftlich begründetes Besorgnispotenzial für ein vorsorgendes Handeln vor, sondern die hinreichende Wahrscheinlichkeit für einen Schadenseintritt kann einen rechtlichen Gefahrenschutz begründen (s. EUROPAEM-Guidelines [2], NTP- [3] und Ramazzini-Studie [4]).

Warum Kausalität nicht alles ist: Die Bradford-Hill-Kriterien

Hinzu kommt: schon in den 1960ern entwickelte der Epidemiologe Sir Austin Bradford Hill weithin anerkannte Kriterien, mit denen Korrelationen in der Gesundheitsforschung begründet bewertet werden können (siehe hierzu auch die grundlegende Arbeit von Hardell [5] dazu). Beispiele:

Kriterium Bedeutung für HF-MF
Konsistenz Wiederholte Effekte in vielen Studien
Dosis-Wirkungs-Beziehung z. B. signifikant erhöhtes Krebsrisiko bei gepulster Mobilfunkstrahlung
Biologische Plausibilität Oxidativer Stress, DNA-Brüche, Fruchtschädigungen
Temporale Korrelation Effekte zeigen sich verzögert bei Langzeitexposition
Analogie ähnliche Effekte bei vergleichbaren Noxen (z. B. niederfrequente Felder)

Diese Kriterien reichen in Umweltmedizin und Recht für ein Eingreifen aus, auch ohne eine vollständige Kausalkette nachweisen zu können. Zwar beruft sich das Bundesamt für Strahlenschutz auf diese Kriterien als (theoretische) Arbeitsgrundlage [6], wendet sie aber bei der konkreten Umsetzung von Studienergebnissen in Vorschläge zur gesetzlichen Regulierung nicht an.

Bewertung ≠ reine Wissenschaft: Es braucht gesellschaftliches aushandeln

Ein weiterer Aspekt betrifft die Tatsache, dass letztlich all diese Erkenntnisse fachlich und rechtlich „bewertet“ werden müssen. Der Akt einer solchen Bewertung kann also nie rein naturwissenschaftlich begründet sein – sondern es bedarf einer „Überführung sachlicher Informationen in eine Handlungsempfehlung“ [7].

Das heißt: Wissenschaft liefert Erkenntnisse und Wahrscheinlichkeiten, aber Politik und Gesellschaft entscheiden, was schützenswert ist, was noch zumutbar ist und wo Vorsorgepflicht besteht.

Die 26. BImSchV blendet diese Betrachtung und Abwägung für die hochfrequenten elektromagnetischen Felder vollständig aus – sie ist ein bloß physikalisch-normativer Standard. Sie missachtet die tatsächlichen Auswirkungen der Mobilfunkstrahlung, den notwendigen Schutz von Risikogruppen und die Anforderungen an Vorsorge.

Die Folgen sind:

• Gesundheitsschutz wird durch das Kausalitätsdogma blockiert,

• athermische Wirkungen bleiben unberücksichtigt,

• vulnerable Gruppen (Kinder, Kranke, elektrosensible Personen) werden nicht geschützt,

• die Vorsorge bleibt ausgeblendet, obwohl EU-Recht (Art. 191 AEUV) genau das fordert.

Quellen

[1] Kühling W. (2020): Wissenschaft verkehrt, oder: Wie Gesetzgebung und Vollzug wissenschaftliche Erkenntnisse missbrauchen. Dargestellt am Beispiel elektromagnetischer Felder. In: umwelt · medizin · gesellschaft 33, 1/2020, 11-18. [ https://www.diagnose-funk.org/download.php?field=filename&id=1020&class=NewsDownload; 01.03.2023].

[2] Belyaev I., Dean A., Eger H., Hubmann G., Jandrisovits R., Kern M., Kundi M., Moshammer H., Lercher P., Müller K., Oberfeld G., Ohnsorge P., Pelzmann P., Scheingraber C. & Thill R. (2017): EUROPAEM EMF-Leitlinie 2016 zur Prävention, Diagnostik und Therapie EMF‐bedingter Beschwerden und Krankheiten. Übersetzung aus: Reviews on Environmental Health 31 (3): 363-397. DOI 10.1515/reveh-2016-0011. [ https://europaem.eu/attachments/article/124/EUROPAEM_EMF_Guideline_2016_
Deutsch_Gesamtfassung_5_Oktober_2017.pdf
; 01.03.2023].

[3] Wyde M.E. et al. (2016): Report of Partial Findings from the National Toxicology Program Carcinogenesis Studies of Cell Phone Radiofrequency Radiation in Hsd: Sprague Dawley® SD rats (Whole Body Exposures). [ http://biorxiv.org/content/biorxiv/early/2016/05/26/055699.full.pdf; 01.03.2023].

[4] Falcioni L. et al. (2018): Report of final results regarding brain and heart tumors in Sprague-Dawley rats exposed from prenatal life until natural death to mobile phone radiofrequency field representative of a 1.8 GHz GSM base station environmental emission. Environmental Research, [https://doi.org/10.1016/j.envres.2018.01.037; 01.03.2023].

[5] Carlberg M & Hardell L (2017): Evaluation of Mobile Phone and Cordless Phone Use and Glioma Risk Using the Bradford Hill Viewpoints from 1965 on Association or Causation. BioMed Research International, Volume 2017, Article ID 9218486, 17 pages. [ http://dx.doi.org/10.1155/2017/9218486].

[6] Bundesamt für Strahlenschutz (2021): Verfahren zur Bewertung gesundheitsbezogener Risiken durch Strahlung am BfS. Strahlenschutz Standpunkt. [ https://www.bfs.de/SharedDocs/Downloads/BfS/DE/broschueren/risikobewertung.html; 01.03.2023].

[7] Risikokommission – Ad hoc-Kommission „Neuordnung der Verfahren und Organisationsstrukturen zur Risikobewertung und Standardsetzung im gesundheitlichen Umweltschutz der Bundesrepublik Deutschland“ (Hrsg.) (2003): Abschlussbericht der Risikokommission, Berlin. [ https://www.gerd-winter.jura.uni-bremen.de/abschlussberichtadhockommission.pdf; 01.03.2023].

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